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Prag funktionalistisch

Der Großteil der Leute verbindet Prag vor allem mit der historischen und zeitgenössischen historisierenden Architektur, die der Stadt einen unverwechselbaren romantischen Charakter gibt. Prag wurde aber seinerzeit zu Recht als eines der führenden Zentren moderner Architektur angesehen, das, wenn auch ästhetisch signifikant verschieden, zu einem nicht wegdenkbaren Bestandteil der Stadt wurde. Der größte architektonische Boom spielte sich hier sowie in anderen großen tschechischen Städten während zweier Dekaden zwischen den Weltkriegen ab. Die Tschechoslowakei war ein junges, liberales demokratisches Land, das unterschiedlichen architektonischen Richtungen offenstand, inklusive dem Avantgarde-Funktionalismus, der im positiven Sinn eine unauslöschliche Spur am Antlitz der Stadt hinterließ.

  • Nationalgalerie Prag – Messepalast
  • Edison-Trafostation
  • Villa Winternitz

Der Funktionalismus begann sich hier in den 1920er Jahren durchzusetzen und seine Einfachheit bis Schroffheit war eine Reaktion auf den ornamentalen Jugendstil, der zu Beginn des Jahrhunderts vorherrschte. Ein großer Schwerpunkt lag auf der Funktionalität und Zweckmäßigkeit des Gebäudes, der seine Form untergeordnet wurde. Der bedeutendste Vertreter des Funktionalismus war der Schweizer Architekt Le Corbusier, der hinter dem Projekt von Baťas Zlín steckte. Dieses wurde zum Aushängeschild dieses Baustils in Tschechien und der Stolz der jungen Republik. Nicht zurück blieben auch die Großstädte, Brünn und Prag, wo eine Reihe funktionalistischer Schmuckstücke entstand, die die ganze Welt bewundert.

In Prag stoßen Sie beinahe an jeder Ecke auf den Funktionalismus. Er fand in vielen Bereichen Anwendung, von privaten und Residenzbauten bis hin zur Kirchenarchitektur. Die folgende Auswahl umfasst die besten Beispiele dieses zeitlosen Stils, auf die Sie in Prag stoßen können.

Das wohl berühmteste funktionalistische Gebäude in Prag ist die Villa Müller in Střešovice. Optisch ein schroffer Würfel, dessen Fassade nur durch die gelben Fensterrahmen aufgehellt wird, war es zur Zeit seiner Entstehung ein schockierendes und schwer akzeptierbares Projekt. Das einzigartige ursprüngliche Interieur macht aus dem Haus eine echte architektonische Perle Prags. Urheber des Entwurfs war der bedeutendste heimische Vertreter des Funktionalismus Adolf Loos, der hier sein revolutionäres Konzept vorstellte, den sogenannten Raumplan, also eine räumliche Anordnung des Hauses und in der Höhe je nach deren Funktion gegliederte Zimmer. Einzigartig ist auch seine Arbeit mit exklusiven Materialien und Farbe. Das Interieur wird von der originellen, von Loos entworfenen Einrichtung komplettiert. Die Villa Müller ist Teil des Museums der Hauptstadt Prag und eine Besichtigung können Sie über die Website des Museums reservieren.

 

Die charakteristische Gliederung des Raums verwendete Loos später auch im Entwurf der Villa Winternitz im Prager Stadtteil Smíchov, die gleichzeitig das letzte zu Lebenszeiten fertiggestellte Projekt war. Im Gegensatz zur Villa Müller ist das ursprüngliche Interieur und die Ausstattung hier leider nicht erhalten geblieben. Die Villa kehrte nach 1989 in die Hände der Nachkommen der ursprünglichen Eigentümer zurück und seit 2017 steht sie der Öffentlichkeit offen. Besuchen können Sie sie während einer der kommentierten Besichtigungen oder einer der Kulturveranstaltungen, die hier stattfinden.

Ein wirklicher Begriff in der Geschichte des tschechischen und europäischen Funktionalismus ist die Villenkolonie Baba. Sie entstand als eine der europäischen Vorzeigekolonien des modernen Wohnens. In den Jahren 1932–1940 wurden hier insgesamt 33 Villen verschiedenen Typs errichtet. Urheber des urbanistischen Konzepts war der bekannte Architekt Pavel Janák, die einzelnen Häuser entwarfen dann auch weitere tschechische Architekten, z. B. Josef Gočár, Ladislav Žák usw. Der Urheber einer der Villen ist der einzige Ausländer, der an dem Projekt mitarbeitete, der Niederländer Mart Stam. Eine Reihe von bekannten Persönlichkeiten dieser Zeit ließ sich hier Villen bauen, zum Beispiel der Grafiker und Designer Ladislav Sutnar, der Maler Cyril Bouda, der Historiker Karel Herain sowie der damalige Direktor des Nationaltheaters Stanislav Mojžíš. Dank ihrer Einzigartigkeit war die Kolonie Baba ab dem Jahr 1993 eine städtische Denkmalzone und vor kurzem wurde Sie auch auf die Liste Europäischen Erbes aufgenommen.  

Die Umsetzung eines ähnlichen Projekts begann bereits einige Jahre früher in Barrandov. Mit dem Gedanken, in Prag eine Gartenstadt zu errichten, kam der Unternehmer und Baumeister Václav Maria Havel. Inspiriert wurde er von einem Besuch in den Vereinigten Staaten von Amerika, konkreter in San Francisco, wo ihn ein ähnliches Villenviertel kalifornischer Magnaten begeisterte und auch das Restaurant Cliff House auf einer Klippe über dem Ozean, welches ihm später als Vorlage zum Bau des ähnlichen Restaurants mit Aussicht Terasy Barrandov diente. Er entschied sich also, ein Stück Amerika nach Prag zu bringen und als idealen Ort für die Umsetzung seines Gedankens wählte er den Felsvorsprung über der Moldau am südlichen Rand Prags. Das umfassende Projekt konnte allerdings nicht vollendet werden. In der ersten Etappe entstanden hier überwiegend funktionalistische Villen, die Häuser aus der späteren Periode sind bereits im romantisierenden Stil. Der attraktive Ort auf dem Felsvorsprung über der Moldau, noch dazu in der Nähe der Filmstudios Barrandov, deren Hauptgebäude ebenfalls ein tolles Beispiel des Funktionalismus ist, zog die Prager Creme de la Creme an. Auch eine Reihe von Leuten aus der Filmbranche und Künstlern ließen sich hier Häuser errichten. Barrandov wurde so zu einer Art tschechischem Hollywood.

Das Barrandover Viertel wurde von dem bereits erwähnten leuchtend weißen funktionalistischen Gebäude des Restaurants mit gläsernem Aussichtsturm Terasy Barrandov dominiert, das sich über dem Fluss erhebt. Kurz nach seiner Entstehung wurde es zu einem beliebten Ausflugsziel der Prager, die es zur Unterhaltung und später auch für Sport ansteuerten. Im ehemaligen Steinbruch unter dem Restaurant ließ die Familie Havel schließlich ein modernes Schwimmbecken errichten, welches das erste 50-Meter-Becken in der Republik war. Urheber des Restaurantgebäudes war Max Urban, der gleichzeitig hinter dem urbanistischen Entwurf der Barrandover Villenkolonie steckte. Der Bau entstand in nur einem halben Jahr. An das Hauptgebäude schloss ein Terrassenkomplex an, der die gewellten Ränder der Felsen kopiert. 1937 wurde die Holzbar Trilobit zugebaut. Leider verfiel das Gebäude seit den 1960er Jahren und die hölzerne Bar brannte vor einigen Jahren nieder. Auch von dem Schwimmbecken ist heute nur das Sprungbrett geblieben. Der neue Besitzer des Objekts begann vor einiger Zeit mit seiner Renovierung und dem Umbau zu einem modernen Hotel, der das Aussehen des Terasy deutlich verändert. Das ursprüngliche Gebäude blieb jedoch erhalten.

Neben privaten Residenzen entstand hier in der Zwischenkriegszeit eine Reihe von Wohnhäusern, die sich durch die außergewöhnliche Qualität und die geehrten Grundsätze des Funktionalismus auszeichneten. Eines davon ist das monumentale Miethaus für die Länderbank in Bubeneč. Dank den Fassaden, an denen sich Reihen von Glasfenstern und Wintergärten mit Streifen von Keramiktäfelung abwechseln, ist es auch als Gläsernes Palais bekannt. Urheber des Projekts ist der hervorragende Architekt Richard Ferdinand Podzemný, der sich unter anderem auch am Entwurf des Schwimmstadions in Podolí beteiligte. Das Haus bietet einen hohen Wohnstandard. Die Luxuswohnungen hatten für ihre Zeit viele technische Errungenschaften, zum Beispiel Fußbodenheizung oder Einbauschränke. Großer Nachdruck wurde hier auf die zweckmäßige Nutzung der Gemeinschaftsräume des Hauses gelegt, vom Souterrain über den Hof bis zum Dach hin. Es befinden sich hier eine unterirdische Garage, ein Tennisplatz sowie eine Dachterrasse, die der Erholung dient.

Der unübersehbare Stahlbetonblock aus Wohnhäusern vom Ende der 1930er Jahre, der direkt gegenüber der Letná-Ebene steht, entbehrt die Eleganz des Gläsernen Hauses und aufgrund seiner Robustheit erhielt er den Spitznamen Molochov. Viel mehr erinnert er an jüngere Plattenbauten. Das Wohnen hier bot allerdings einen für diese Art des Wohnens ungewöhnlichen Komfort. Teil der Wohnungen waren Zimmer für Dienstmädchen sowie Garderoben und einige Wohnungen nahmen auch ganze Stockwerke ein. Das Parterre des Gebäudes war kommerziellen Zwecken vorbehalten. Nach dem kommunistischen Umsturz im Februar 1948 wurden die Luxuswohnungen dazumal von einer Reihe kommunistischer Machthaber besetzt. Seit den 1960er Jahren ist das Gebäude denkmalgeschützt.

Zu seiner Zeit das größte Gebäude seiner Art ist der Messepalast (Veletržní palác) heute Teil der Nationalgalerie in Prag. Er wurde in den Jahren 1925–1929 nach dem Entwurf der Architekten Oldřich Tyl und Josef Fuchs errichtet und diente seinem ursprünglichen Zweck, Messen, bis ins Jahr 1951. Das Gebäude von bewundernswerter Größe hat 8 überirdische und 2 unterirdische Etagen und weitläufige Ausstellungssäle. Der imposante Raum der Eingangshalle ist von Umgängen gesäumt und durchdringt alle Etagen. Diese sind mit der subtilen Konstruktion eines gläsernen Aufzugs verbunden, der in sich selbst ein Kunstwerk ist. Auch wenn der Palast wie ein vollkommen regulärer Bau wirkt, finden Sie hier angeblich keinen einzigen rechten Winkel. Im Jahr 1974 wurde das Gebäude fast durch ein Feuer zerstört und musste aufwendig renoviert werden. Der Messepalast öffnete sich der Öffentlichkeit erst 20 Jahre später wieder, bereits als Ausstellungsräumlichkeit der Nationalgalerie, die hier ihre umfassenden Sammlungen moderner und zeitgenössischer Kunst platzierte.

Das elegante Gebäude der Edison-Trafostation (Edisonovy transformační stanice) befindet sich direkt in der Nachbarschaft der Kirche St. Heinrich (Kostel sv. Jindřicha) und der Jubiläumssynagoge (Jubilejní synagogy). In den Jahren 1926-1930 wurde sie vom Architekten F. A. Libra für die Prager Verkehrsbetriebe entworfen und errichtet. Dieser einzigartige Kaskadenbau hat überraschenderweise keine Stahlbetonkonstruktion. Nur die Decken sind aus Beton, der Rest ist gemauert. Jedes Stockwerk hat außerdem einen anderen Grundriss und eine eigene Terrasse. Die vordere Fassade ist doppelt; zwischen der vorgesetzten und der tatsächlichen Fassade ist ein fast einen Meter großer Abstand, der der natürlichen Belüftung und der Kühlung der Öltransformatoren dient. Als Trafostation des Gebäudes diente es bis in die Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Nach einer gelungenen Renovierung entstand hier ein Multifunktionsraum, in dem heute ein Kammerkino mit stilvollem Kaffeehaus, der Edison Film Hub seinen Sitz hat.

Das siebenstöckige Schuhgeschäft Baťa - Baťa  Palais (Baťův palác) aus dem Jahr 1929 steht im unteren Teil des Wenzelsplatzes und dient bis heute seinem Zweck. Dank der von einigen Reihen großformatiger Fenster gebildeten Fassade wurde es auch „gläsern“ genannt. Zu seiner Zeit handelte es sich um das modernste Kaufhaus Europas in europäischen Maßstäben. Das Gebäude wird als einer der bedeutendsten Bauten des tschechischen Funktionalismus angesehen.

Das multifunktionelle Gebäude des Vereins bildender Künstler Mánes (Spolek výtvarných umělců Mánes), errichtet 1930 anstelle der ehemaligen Šítkov-Mühlen (Šítkovské mlýny), ist eines der interessantesten Beispiele dieses Stils. Der Komplex, in dem heute der Ausstellungssaal Mánes seinen Sitz hat, verbindet nämlich das Masaryk-Ufer mit dem südlichen Teil der Slaweninsel (Slovanský ostrov). Der Urheber des Projekts, der Architekt Otakar Novotný platzierte also den Bau auf einer Stahlbetonbrücke, die sich über einen Seitenarm der Moldau wölbt, um die Bedingung eines frei fließenden Flusses unter dem Gebäude zu erfüllen. Der niedrige Quader mit Glasflächen und glatter heller Fassade bildet einen interessanten Kontrast mit dem dunklen steinernen Mauerwerk des Renaissanceturms Šítkov, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft er sich befindet.

Das Gebäude der Prager Verkehrsbetriebe (Budova Elektrických podniků hl. města Prahy) in Holešovice aus den Jahren 1927-1935 von den Architekten Adolf Benš und Josef Kříž dominiert das Holešovicer Ufer. Der umfassende Komplex wurde als Polyfunktionshaus konzipiert, das aus mehreren Gebäuden besteht, die unterschiedlichen Zwecken dienen sollten. Das Haus wurde mit für seine Zeit originellen modernen Technologien ausgestattet, zum Beispiel künstlicher Klimatisierung. Die horizontal gegliederte Fassade ist wieder zum Teil aus gläsernen Flächen und Keramiktäfelung gebildet. Interessant ist, dass die Fassade des Gebäudes in der Nacht leuchtete, was von dem speziellen Anstrich auf der Keramiktäfelung verursacht wurde, scheinbar auf Phosphorbasis.  Das war wahrscheinlich der Grund, warum das Gebäude während dem Krieg, als Flugangriffe drohten, grün umgestrichen wurde.

Das monumentale Gebäude des Technischen Nationalmuseums in Prag (Národní technické muzeum) in Letná wurde in den Jahren 1938-1941 zusammen mit dem benachbarten, beinahe identischen Nationalen Landwirtschaftsmuseum (Národní zemědělské muzeum) nach dem Entwurf des Architekten Milan Babuška errichtet. Das Gebäude mit markanten neoklassizistischen Elementen ist ein Beispiel des sogenannten internationalistischen Stils, also des späten Funktionalismus. Das Gebäude hat die Form des Buchstaben U; zwischen den beiden kürzeren Flügeln, welche senkrecht von den Rändern der Fassade ausgehen, befindet sich eine Halle mit einer Fläche von 70 x 25 m mit drei Galerien bestimmt für die größten Exponate aus dem Bereich Verkehr, Flugzeuge, Lokomotiven und Autos.

Eine Übersicht der besten funktionalistischen Gebäude in Prag, überwiegend aus der Zwischenkriegszeit, wäre unvollständig ohne den ersten Kirchenbau Tschechiens, in dem eine Stahlbetonkonstruktion verwendet wurde. Es handelt sich um die St.-Wenzel-Kirche in Vršovice (Kostel sv. Václava ve Vršovicích), entworfen von Josef Gočár. Der großzügige Bau nutzt das abschüssige Terrain ideal, welches sich in den stufenartig konzipierten Dächern mit Beleuchtung des Kirchenschiffs durch die seitlichen Fensterstreifen widerspiegelt. Die Intensität des Lichts steigt zum Altar hin an. Das Gebäude wird von einem schlanken, 80 m hohen prismatischen Glockenturm dominiert, an dessen Spitze ein hohes gelbes Kreuz emporragt, das nach der Dämmerung beleuchtet wird.